
Ungeklärte Lungenentzündungen bei Kindern in China: Was steckt dahinter?
Im Norden Chinas treten bei Kindern zurzeit vermehrt Atemwegserkrankungen auf – sogar von "nicht diagnostizierten" Lungenentzündungen ist die Rede. Die Weltgesundheitsorganisation versetzt das in Alarmbereitschaft. Wie kommt es zu den Krankheitsfällen?
Die Situation weckt böse Erinnerungen: Die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtet am Mittwoch von gehäuften Lungenentzündungen bei Kindern im Norden Chinas. Sie fordert zusätzliche epidemiologische und klinische Informationen sowie Laborergebnisse zu den Krankheitsfällen an, um sie genauer zu bewerten. Genaue Zahlen, wie viele Kinder erkrankt sind, nennt die Organisation nicht.
ProMED, ein öffentlich zugängliches Meldesystem für neu auftretende Infektionskrankheiten, listet derweil einen Beitrag des taiwanesischen Fernsehsenders FTV News. Dieser berichtet über "nicht diagnostizierte" Lungenerkrankungen bei Kindern in Nordchina. Kinderkrankenhäuser in Peking, Liaoning und anderen Orten seien mit kranken Kindern überfüllt. "Sie husten nicht und haben keine Symptome. Sie haben nur hohe Temperatur (Fieber) und viele entwickeln Lungenknötchen", zitiert der Fernsehsender einen Bürger aus Peking.
In den sozialen Netzwerken kursieren derweil Videos aus den Kinderkrankenhäusern. Sie zeigen Dutzende Menschen, die die Wartebereiche und Flure der Kliniken füllen, die draußen in langen Warteschlangen auf eine ärztliche Behandlung warten. Alles mutet wieder so an wie 2019, als Sars-CoV-2 in China auftauchte.
"Natürlich wird man hellhörig", sagt Martin Stürmer, Virologe und Laborleiter am IMD-Labor für interdisziplinäre Medizin und Diagnostik in Frankfurt. "Und ich finde, das ist auch angebracht und es ist gut, dass sich die WHO die diagnostischen Details zeigen lässt. Aber man sollte noch nicht in den Alarmmodus verfallen."
Die hohe Zahl an Lungenerkrankungen bei den Kindern könnte eine einfache Erklärung haben: Sie könnte auf eine Erkältungswelle hindeuten, die China nun heimsucht.
Auf einer Pressekonferenz berichten chinesische Behörden der nationalen Gesundheitskommission vergangene Woche, dass Atemwegserkrankungen in China zunehmen. Als Grund nennen sie das Ende der Corona-Schutzmaßnahmen und die Verbreitung bekannter Krankheitserreger – darunter Influenza, Mycoplasma pneumoniae (eine bakterielle Infektion, die typischerweise jüngere Kinder betrifft), das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) und Sars-CoV-2.
China hat während der Corona-Pandemie bis zuletzt versucht, alle Infektionen mit dem Virus zu verhindern. Das hatte strenge Schutzvorkehrungen und regelmäßige Lockdowns zur Folge. Gleichzeitig bremste diese Null-Covid-Strategie auch andere Krankheitserreger aus. Kinder kamen also nicht in Kontakt mit Viren wie RSV oder Influenza.
Jetzt, wo die Corona-Schutzmaßnahmen aufgehoben sind, haben alle Viren wieder bessere Möglichkeiten, sich zu verbreiten. "Erst jetzt, zeitverzögert und in der Erkältungssaison Herbst/Winter 2023/24, werden die Folgen des fehlenden Trainings der Immunabwehr gegenüber den anderen Erregern sichtbar", sagt Timo Ulrichs, Infektionsepidemiologe von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Die Kinder infizieren sich wieder häufiger mit Atemwegserregern.
Die vermehrten Lungenerkrankungen könnten also auf Nachholeffekte zurückzuführen sein. "Das haben wir auch bei uns gesehen", ergänzt Virologe Stürmer. "Als es kühler wurde, stiegen die Besuchszahlen in den Arztpraxen signifikant." Im vergangenen Jahr hatte hierzulande vor allem das RS-Virus kleine Kinder krank gemacht.
Doch die Frage ist: Was bedeuten die "nicht diagnostizierten" Lungenerkrankungen, von denen FTV News spricht? Heißt das, dass ein neuer, noch unbekannter Erreger die Kinder krank macht? Dass die Tests deshalb nicht angesprochen haben und keine Diagnose möglich war? "Davon würde ich zurzeit nicht ausgehen", sagt Stürmer. Dafür sei die Datenlage noch zu gering. Außerdem würde sich ein neues Virus, das den Sprung vom Tier zum Menschen schafft, zunächst lokal verbreiten. So war es auch bei Sars-CoV-2: Infektionen traten zu Beginn vor allem in Wuhan, rundum den dortigen Wildtiermarkt auf.
Die Lungenerkrankungen, die die WHO nun beunruhigen, treten hingegen in einem größeren Gebiet auf. Die beiden Orte Liaoning und Peking sind beispielsweise mehr als 600 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Das spreche eher gegen einen neuen pandemischen Virenstamm, meint Stürmer. Dennoch müsse man wachsam bleiben: "Es ist wichtig, die Fälle zu hinterfragen, um nicht Gefahr zu laufen, dass sich unbemerkt SARS-CoV-3 oder andere neue Erreger verbreiten können."
Die WHO hofft auf weitere Informationen aus China zur Infektionslage im Land. Sie stehe mit chinesischen Forschern und Forscherinnen sowie Kliniken in Kontakt und werde beizeiten weitere Updates liefern, teilt die Organisation mit. Allerdings hatte sich schon während der Sars-CoV-2-Pandemie gezeigt, dass China in der Informationsübermittlung zurückhaltend ist.
Bis geklärt ist, ob tatsächlich ein neues Virus die Kinder krank macht, rät die WHO den Menschen vor Ort, Infektionen zu meiden. Dazu empfiehlt sie Maßnahmen wie: die empfohlenen Impfungen wahrzunehmen, Abstand zu kranken Menschen zu halten, bei Krankheit zu Hause zu bleiben, sich bei Bedarf untersuchen und medizinisch versorgen zu lassen, gegebenenfalls Masken zu tragen, für gute Belüftung zu sorgen und sich regelmäßig die Hände zu waschen. Denn: Was bei Corona geholfen hat, hilft auch bei anderen und neuen Erregern.