
Wahlbeben in Europa: Steuert die EU nach rechts?
Die überwiegende Mehrheit der 360 Millionen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger der EU wird am Sonntag ihre Stimme abgeben, obwohl Länder wie die Niederlande, Irland und Italien bereits früher mit der Abstimmung begonnen haben. Die Ergebnisse der Wahl werden am Sonntagabend erwartet.
Am Sonntag haben die Wahllokale auf dem französischen Festland für die Europawahlen geöffnet, bei denen der rechts-extreme Rassemblement National der zentristischen Gruppierung von Präsident Emmanuel Macron voraussichtlich eine schwere Niederlage zufügen wird. Mehr als 49 Millionen Wähler haben Anspruch auf die Wahl der 81 französischen Abgeordneten für das Europaparlament. Der Wahlkampf war geprägt vom Aufstieg der extremen Rechten in vielen Mitgliedsländern des Blocks.
In welche politische Richtung steuert die EU nach der verheerenden Corona-Pandemie und dem Beginn des grausamen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine? Mit den Wahlen in Deutschland und rund zwei Dutzend anderen EU-Staaten endet an diesem Wochenende der Entscheidungsprozess über die Besetzung des nächsten Europäischen Parlaments.
Gefeiert werden dürfte am Abend vor allem bei rechten Parteien. In Frankreich könnte die rechtsnationale Partei Rassemblement National von Marine Le Pen nach Umfragen die mit Abstand stärkste politische Kraft werden und doppelt so viele Parlamentssitze holen wie das Wahlbündnis "Besoin d'Europe" von Präsident Emmanuel Macron. Auf deutliche Zugewinne können auch die Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Partei für die Freiheit (PVV) des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders sowie die österreichische FPÖ und die deutsche AfD hoffen.
Doch reichen die Zugewinne aus, um einen Rechtsruck mit spürbaren Konsequenzen zu bewirken? Daran muss schon deswegen gezweifelt werden, weil rechte Parteien selbst bei unerwartet starken Zugewinnen insgesamt auf nicht viel mehr als 200 der 720 Sitze im Europäischen Parlament kommen dürften. Nach aktuellen Prognosen kann die christlich-konservative Parteienfamilie EVP mit den deutschen Parteien CDU und CSU darauf hoffen, mit etwa 180 Sitzen klar stärkste politische Kraft zu werden. Theoretisch wäre es damit möglich, dass sie wie 2019 eine Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und Liberalen vereinbart, die in Prognosen zuletzt trotz deutlicher Verluste noch auf 140 beziehungsweise 90 Sitze kamen.
Gegen einen deutlichen Rechtsruck spricht auch, dass es den rechten Parteien bislang nicht gelungen ist, ein schlagkräftiges, einheitliches Bündnis zu bilden. So gehörte das RN von Le Pen in der nun auslaufenden Legislaturperiode zur rechten Fraktion ID (Identität und Demokratie), Melonis Fratelli d'Italia dagegen zur konkurrierenden EKR (Europäische Konservative und Reformisten). Die ID schloss zudem zuletzt alle deutschen AfD-Europaabgeordneten aus. Hintergrund waren unter anderem umstrittene Äußerungen des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah zur SS und eine China-Spionageaffäre um einen Mitarbeiter Krahs.
Die Französin Le Pen wirbt derzeit zwar bei Meloni für eine Vereinigung, um nach der Wahl die zweitgrößte Fraktion im Europäischen Parlament zu bilden. Ob es dazu kommt, gilt allerdings als unsicher. Ein Grund ist, dass Meloni auch von der mächtigen EVP umworben wird. Deren Chef Manfred Weber (CSU) betont immer wieder, dass die EVP mit allen Parteien zusammenarbeiten wolle, "die pro Rechtsstaat, pro Europa, pro Ukraine" sind. Und Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen sagt über Meloni: "Sie ist ganz klar proeuropäisch, gegen Putin (...) und pro Rechtsstaat."
Für eine zumindest lose Zusammenarbeit mit der EVP spricht für Meloni, dass sie dann nah am Machtzentrum der EU wäre. Die EVP stellt derzeit bei EU-Gipfeln 13 der 27 Staats- und Regierungschefs und ist damit mit Abstand die einflussreichste politische Kraft dort. Wenn Meloni hingegen eine enge Allianz mit Le Pen eingeht, dürfte dies einer Zusammenarbeit mit der EVP entgegenstehen - Le Pen wird von der EVP noch immer als EU-feindlich, Russland-nah und rechts-extrem verteufelt - trotz deren Bemühungen, sich von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen zu distanzieren.
Für Ursula von der Leyen, die eine zweite Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission anstrebt, ist die Situation Chance und Risiko zugleich. Sie muss nach der Europawahl im ersten Schritt bei einem EU-Gipfel mit qualifizierter Mehrheit dem Parlament als Kandidatin vorgeschlagen werden. Das heißt: Es müssen neben den 13 EVP-Staats- und Regierungschefs noch mindestens drei weitere von großen Mitgliedstaaten für sie stimmen.
Im zweiten Schritt gilt es dann noch, die Mehrheit der Parlamentsmitglieder bei einer geheimen Wahl hinter sich zu vereinen. Dafür könnten von der Leyen und die EVP darauf setzen, über eine Einbindung von Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen eine stabile Allianz für ihre Wahl zu schmieden. Sollten etwa die Grünen dabei nicht mitspielen, könnten Stimmen aus Melonis Partei dazu beitragen, eine Wiederwahl zu sichern. Eine Gefahr ist allerdings, dass ein Anbändeln mit Meloni oder anderen Rechten dafür sorgt, dass auch Sozialdemokraten von der Leyen die Zustimmung verweigern könnten.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte zuletzt im Wahlkampf, wenn die nächste Kommission gebildet werde, "darf sie sich im Parlament nicht auf eine Mehrheit stützen, bei der es auch die Unterstützung von Rechts-extremen braucht". Ob er dazu auch die Partei von Meloni zählt, ließ er vermutlich absichtlich offen. Aus dem Kanzleramt hatte es bislang eigentlich geheißen, Scholz schätze die Zusammenarbeit mit Meloni auf EU-Ebene sehr.