
Kommentar zum Tod von Shani Louk - Israel mit dem Herzen sehen
Wie lange Shani lebte und was sie möglicherweise noch durchgemacht hat in den zurückliegenden drei Wochen, weiß niemand. Seit dem 30. Oktober aber gibt es eine traurige Gewissheit: Shani ist tot. Für die Mütter und Väter anderer entführter junger Menschen bedeutet die Nachricht über Shani nichts Gutes. Rachel Goldberg zum Beispiel sah ihren Sohn Hersh zum letzten Mal, als er sich am Vorabend des Supernova-Musikfestivals mit einem Kuss von ihr verabschiedete. Hersh fuhr zur gleichen Veranstaltung wie Shani. Das kultige Festival versprach "eine Reise der Einheit und Liebe".
Auch Hersh wurde entführt. Seither fühlt sich seine Mutter, wie sie sagt, vor Schmerz, Schlaflosigkeit und Tränen "wie in einem anderen Universum". Augenzeugen haben berichtet, eine Granate der Hamas habe ihrem Jungen den linken Arm abgerissen. Hersh habe es aber irgendwie geschafft, den Stumpf abzubinden und sei aus eigener Kraft noch aufrecht gegangen, als die Hamas-Terroristen ihn mitnahmen nach Gaza. Nun fragt sich Rachel: Lebt Hersh noch? Starb er kurze Zeit später? Oder starb er vielleicht heute, vor fünf Minuten?
Rachels tapferer Auftritt am Rande einer Veranstaltung der Vereinten Nationen ist ein sprachlos machendes Dokument dieser Zeit. Bevor jemand sich aufschwingt zu Interpretationen dessen, was in Israel passiert ist, sollte er dieser Mutter ein paar Minuten zuhören.
Allzu schnell hantierten in den vergangenen drei Wochen viele mit ihren Versuchen, alles irgendwie einzuordnen und weg zu sortieren. In Deutschland sprachen Regierungsmitglieder von Staatsräson, als gehe es darum, sich irgendwie das Hemd zuzuknöpfen und gegenüber Israel eine aus der Vergangenheit entspringende, traurige Pflicht zu erfüllen. Israel-Kritiker wiesen auf unbestreitbare Fehler der Regierung von Premier Benjamin Netanjahu hin und deuteten den Terror als eine Art Quittung dafür.
In Wahrheit geht beides daneben. Von Antoine de Saint-Exupéry ("Der kleine Prinz") wissen wir: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Die Menschen in Israel haben Anspruch darauf, auf diese etwas andere Art betrachtet zu werden: nicht durch diese oder jene schnelle Analyse, sondern viel langsamer, einfühlsamer und menschlicher als bisher. Der Angriff auf Israel vom 7. Oktober ist weit mehr als irgendein neues Hin und Her im Nahostkonflikt. Es geht hier um etwas Kolossales, einen von langer Hand organisierten und gezielt inszenierten Zivilisationsbruch, den schlimmsten seit Hitler.
Jüdische Familien spüren den Eishauch eines konkreten Vernichtungswillens. Die Hamas wünscht ihnen allen den Tod, und zwar einen durchaus qualvollen. Wie dieses Gefühl des Bedrohtseins sich auswirkt, können sich Unbeteiligte nicht vorstellen. Es geht bis ins Mark, es lässt Menschen erzittern und blass werden. Und es dreht manches um im Denken, auf furchtbare Art. Der Israeli Thomas Wand etwa empfand es als einen Segen, dass seine Tochter Emily von der Hamas gleich getötet und nicht entführt wurde. "Ich habe gelächelt, als ich die Nachricht bekam", sagte er der CNN-Reporterin Clarissa Ward unter Tränen. "Denn unter mehreren Varianten ist das die bessere."
Post- und Büroanschrift Malta - die klevere Alternative
Von Shani Louk war, bevor man die Leiche entdeckte, zunächst ein Schädelknochen gefunden worden. Dies könnte auf eine Enthauptung deuten. Hat sie zuvor noch lange gelitten? Fest steht nur, dass die Hamas-Banden in den vergangenen drei Wochen massenhaft lebende Jüdinnen und Juden gefoltert und auch bereits tote noch ihrer Würde beraubt haben – in einem mittelalterlich anmutenden Blutrausch. Laut der israelischen Armee fanden sich bei den Mördern schriftlich notierte islamistische Hassparolen wie diese: "Wisse, dass dein Feind eine Krankheit ist, für die es kein Heilmittel gibt, außer der Enthauptung und der Entnahme von Herzen und Lebern!"
Der Berücksichtigung eines solchen geradezu hechelnden Mordwillens wird niemand gerecht, der jetzt die in Europa üblichen Talkshowweisheiten rund ums Thema Zwei-Staaten-Lösung verkündet. Auch Ermahnungen zur Besonnenheit klingen in den Ohren vieler Terrorbetroffener nur noch makaber. Was aber tun? Israels Bodenoffensive in Gaza kann in ein ethisches Desaster führen. Zudem birgt sie das Risiko eines Einstiegs auch des Iran in den Konflikt – schnell könnte daraus wiederum nicht nur ein Flächen-, sondern ein Weltenbrand entstehen.
Die größte Gefahr dieser Tage liegt generell in der zu schnellen Taktung, im zu hohen Tempo von Aktionen und Reaktionen. Terrorismus ist immer auch taktischer Akzelerationismus: der Versuch, durch Beschleunigung der Abläufe Hektik auszulösen und den verhassten Gegner schon damit zu Fall zu bringen. Israel und der Westen könnten einander einen großen Gefallen tun, indem sie erst einmal durchatmen und zusammenrücken. Das kann schon viel verändern. Wenn wir den Zeigefinger sinken lassen und Israel mit dem Herzen sehen, wächst die Chance, dass umgekehrt auch Israel sich endlich verstanden fühlt – und drohende Fehler vermeidet.